- von Pfarrvikar Rainer Herteis, Wemding im Bistum Eichstätt -

Jung, dynamisch und erfolgreich – so soll es sein, das Leben in unserer modernen Welt. Das Zeitalter der sogenannten Moderne zeichnet sich jedoch vor allem dadurch aus, dass unsere Welt vollkommen von der Technik beherrscht wird. Herzenshaltungen, wie z. B. die der Barmherzigkeit, kommen da kaum mehr vor. Wir sind dazu eingeladen, Gottes Barmherzigkeit zu verkünden und sie durch eigene Taten sichtbar zu machen. Dies können wir in sechs verschiedenen Weisen praktisch in die Tat umsetzen.

Wer heutzutage einen Fehler macht, der muss ihn nicht mehr ausbaden, er tritt einfach von seinem Amt zurück. Und selbst wer eine Sünde begeht, wird dies vertuschen und es als allzu menschlichen Kavaliersdelikt hinstellen. Trotz all dem gibt es Momente und Augenblicke, wo ein jeder von uns in besonderer Weise aufgerufen ist, barmherzig zu sein. Könnte nicht die aktuelle Situation unzähliger Flüchtlinge und Asylbewerber dazu gehören? In diesem Fall wird der Mensch dann zum wirkungsvollen Zeichen dafür, dass Gott, der himmlische Vater, selbst am Menschen handelt. Denn tatsächlich erkennt man an der rein weltlich ausgerichteten Enzyklopädie von Brockhaus, dass Barmherzigkeit ein Ausdruck der Nächstenliebe ist, die im gelebten Christentum beheimatet ist, und bei der es um die Haltung des Mitleids geht. Bevor aber das praktisch gelebte barmherzige Handeln im Alltag näher beleuchtet wird, soll zunächst einmal das Wesen der göttlichen Barmherzigkeit selbst aufleuchten.

Reine Barmherzigkeit

Den Kern aller biblischen Aussagen finden wir im Gleichnis vom barmherzigen Vater Lk 15, 11ff. Eine zentrale Wesenseigenschaft dieses Vaters besteht darin, dass er seiner Vaterschaft allezeit treu bleibt. Die Treue betrifft vor allem die Freude über den Mitmenschen, denn der Vater freut sich über seinen Sohn trotz all dem, was dieser Tragisches getan hat. Neben der Treue zeichnet sich der Vater dadurch aus, dass er zutiefst innerlich bewegt ist über das dramatische Schicksal seines Sohnes. Barmherzig ist also derjenige, der nicht in Distanz zum Mitmenschen steht, sondern der im Herzen bei der Not seines Nächsten ist. Und genau so lässt sich unser himmlischer Vater beschreiben. Ganz im Gegensatz zu uns Menschen.Erbarmen hat bei uns oft damit zu tun, dass man auf andere herabschaut, gemäß dem ironisch gemeinten Motto: „Bitte eine Runde Mitleid für diesen armen Menschen“. Gottes Erbarmen verhält sich jedoch ganz und gar anders. Statt herabzusehen verleiht Gott dem, mit dem Er barmherzig ist, Seine volle Würde.

Barmherzig und dennoch gerecht

So bleibt nun schließlich die Frage, wo denn Gottes Gerechtigkeit bleibt, wenn Er doch zu jedem augenblicklich barmherzig ist. Wie Gott voller Erbarmen und doch absolut gerecht sein kann, lässt sich nur durch das Kreuz Jesu Christi erklären. Jesus ist nämlich derjenige, der, während Er am Ölberg Todesangst hat und leidend am Kreuz hängt, selbst Erbarmen braucht. Oder anders gesagt: in Jesus erkennen wir Gott, der selbst daran leidet, dass Er abgelehnt wird. Die Verbindung zwischen Gott und den Menschen ist also hier abgebrochen. Man kann von einem Spalt sprechen, den es da gibt zwischen dem Menschen, der Gott ablehnt, und Gott, der vollkommen gerecht ist. Über diesen Spalt nun stellt sich Jesus gleichsam wie eine Brücke. Jesus drückt diese Tatsache in folgendem Gebet aus: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lk 23, 34) Wenn Gott also nur gerecht wäre, ganz ohne Barmherzigkeit, dann müssten wir Menschen es deutlich zu spüren bekommen, dass wir Gott ablehnen, ja dass wir von Gott getrennt sind.Jesus jedoch tauscht mit uns das Schicksal: das, was wir wegen unserer Trennung von Gott tragen müssten, nimmt Er stellvertretend für uns auf sich, indem Er ganz und gar gemäß der sündigen Haltung des von Gott getrennten Menschen betet: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen.“ (Mt 27, 46) Was Jesus hier tut, kann man als Liebesopfer bezeichnen, denn aus reiner Liebe zu uns geht Jesus in die Position des Menschen hinein, der aus eigener Schuld von Gott getrennt lebt. Der Prophet Jesaja drückt dies im 53. Kapitel, Vers 5, so aus: „Zu unserem Heil lag die Strafe auf Ihm.“ Und damit ist all die Ablehnung, die wir von Gott, wenn Er allein nur gerecht wäre, wegen unserer Sünden erfahren müssten, aufgehoben. Deshalb kann Gott, der Gerechte, nun zu uns Sündern sagen: Ihr seid meine geliebten Kinder. Zusammengefasst lässt sich sagen: Die Tatsache, dass Jesus aus Liebe für uns ans Kreuz geht, ist die größtmögliche Offenbarung dessen, dass Gott voller Erbarmen ist.

Barmherzig wie der Vater

Gott hat sich uns Menschen als völlig barmherzig geoffenbart und sich auch so erwiesen. Dies hat auch für uns Menschen ganz praktische Konsequenzen. Konkret sind wir dazu eingeladen, Gottes Barmherzigkeit zu verkünden und sie durch eigene Taten sichtbar zu machen. Dies können wir in sechs verschiedenen Weisen praktisch in die Tat umsetzen.Das erste ist eine ganz persönliche Rückkehr in die offenen und liebenden Arme unseres himmlischen Vaters. Dazu zählt beispielsweise, dass ich eine Pilgerreise antrete als äußeres Zeichen für eine Umkehr und neue Hinkehr zu Gott. In erster Linie gelingt dies durch eine gründlich vorbereitete Lebensbeichte. Sollte es möglich sein, zusätzlich einen vollkommenen Ablass zu gewinnen, wird uns vom Himmel her nicht nur die Vergebung aller unserer Sünden geschenkt, sondern wir werden auch von all dem befreit, was die Folgen unserer Sünden Negatives mit sich gebracht haben. Besonders brillant, um ein Zweites zu erwähnen, strahlt Gottes Erbarmen im Leben unserer Mitmenschen auf, wenn wir die sogenannten Werke der Barmherzigkeit vollziehen, die sich in leibliche und geistige Werke unterteilen lassen. Die dritte Weise beruht darauf, allen Menschen alles immer wieder zu vergeben, und, anstatt die Sünder zu richten, sie zu lieben, wie eine liebe Mama ihr krankes Kind liebt. Ein Viertes, das uns hilft, Gottes Barmherzigkeit praktisch in unsere Welt hineinzutragen, besteht darin, mit Rat und Tat mitzuhelfen, dass Gemeinden und christliche Familien als Nester gelebter Nächstenliebe in einer oft so hartherzigen Welt entstehen und wachsen können. Die fünfte Möglichkeit, um Gottes Barmherzigkeit täglich in Fülle geschenkt zu bekommen, hat uns Jesus selbst durch Seine Botschaften an die polnische Ordensschwester Faustyna Kowalska in den 1930-er Jahren geoffenbart. Hierzu sind vor allem der Rosenkranz zur göttlichen Barmherzigkeit, der, wie Jesus selbst sagt, der letzte Rettungsanker für die Sünder ist, die Barmherzigkeitsstunde täglich ab 15.00 Uhr, in der der himmlische Vater keiner Seele etwas versagt, die Ihn durch das Leiden Jesu anruft, und schließlich das Bildnis des barmherzigen Jesus, der verspricht, dass keine Seele verloren geht, die dieses Bild verehrt, zu nennen. Als sechster Punkt fehlt all dem bisher Genannten am Ende noch das Tüpfelchen auf dem i: Die Verehrung der seligen Jungfrau Maria als Mutter der Barmherzigkeit vermittelt nahezu unendlich viele Gnaden, vor allem dann, wenn wir sie betrachten, wie sie treu unter dem Kreuz ihres Sohnes Jesus steht. Möge uns die Gottesmutter dabei helfen, Schritt für Schritt dem barmherzigen Vater immer ähnlicher zu werden, damit alles hier auf Erden wie im Himmel werde (vgl. Botschaft der Königin des Friedens vom 25. Januar 2016).