Ein Charisma im Schutz der Kirche
- Medjugorje im Licht der neuen Normen zur Beurteilung von übernatürlichen Phänomenen -
Pfarrer Thomas Müller wurde 1972 in Frankfurt geboren und studierte zunächst Chemie in Bonn. Durch Medjugorje fand er einen tieferen Zugang zum Glauben und einer persönlichen Beziehung zu Christus und seiner Mutter Maria. Von 2002 bis 2006 studierte er Theologie an der Philosophisch Theologischen Hochschule der Pallottiner in Vallendar. Am 24. Juni 2010, dem Hochfest des hl. Johannes des Täufers, wurde er durch Joachim Kardinal Meisner für die Erzdiözese Köln zum Priester geweiht. 2006 erschien sein Buch „Medjugorje – Ein Charisma und seine Bestätigung für das Gottesvolk“, das 2008 mit dem Koblenzer Hochschulpreis ausgezeichnet wurde. In seinem Beitrag versucht Pfarrer Müller, die Ereignisse von Medjugorje im Licht der neuen „Normen des Dikasteriums für die Glaubenslehre zur Beurteilung übernatürlicher Phänomene“ vom 17. Mai 2024 einzuordnen.
Wege der Offenbarung des Willens Gottes
Die Bibel kennt sowohl im Alten als auch im Neuen Testament Visionen, Auditionen, Erscheinungen und andere übernatürliche Phänomene als Wege der Offenbarung des Willens Gottes. Sei es die Offenbarung Gottes an Mose im brennenden Dornbusch (Ex 3), die Berufungsvision des Propheten Jesaja (Jes 6,1-10), die Erscheinung des Erzengels Gabriel an Zacharias und Maria (Lk 1,5-36), die Befreiung des Petrus durch einen Engel aus dem Gefängnis des Herodes (Apg 12,6-18) oder die Bekehrung des Paulus vor den Toren von Damaskus (Apg 9,1-22), um nur einige wenige Beispiele zu nennen.
Auch in nachbiblischer Zeit nutzt Gott diese Wege, um seinen Willen zu offenbaren. Wir wissen von Visionen im Leben des hl. Franz von Assisi, der hl. Teresa von Avila, der hl. Schwester Faustina Kowalska oder den Erscheinungen der Gottesmutter in Lourdes, Fatima und Medjugorje. „Die gesamte Heilsgeschichte hindurch hat Gott Erscheinungen und Visionen unterschiedlichster Art als Kommunikationsweg zwischen Ihm und seinen Geschöpfen gewählt. Diese Form der Kommunikation ist der leiblich-geistigen Verfasstheit des Menschen am angemessensten, denn er nimmt über seine Sinne, insbesondere den Seh- und Hörsinn, die Beziehungen, in denen er steht, wahr und verarbeitet sie anschließend rational. Da der Mensch als Geschöpf nach Gottes Abbild in einer besonderen Beziehung zu seinem Schöpfer steht, ist es nicht verwunderlich, dass Gott sich auch auf diesem Weg erfahrbar macht.
Zum Begriff „Privatoffenbarungen“
Kardinal Ratzinger betont in seinem Kommentar zur Veröffentlichung des Geheimnisses von Fatima: „Die Lehre der Kirche unterscheidet zwischen der ‚öffentlichen Offenbarung‘ und den ‚Privatoffenbarungen‘. Zwischen beiden besteht nicht nur ein gradueller, sondern ein wesentlicher Unterschied. Das Wort ‚öffentliche Offenbarung‘ bezeichnet das der ganzen Menschheit zugedachte Offenbarungshandeln Gottes, das seinen Niederschlag in der zweiteiligen Bibel aus Altem und Neuem Testament gefunden hat. ‚Offenbarung‘ heißt es, weil Gott darin sich selbst Schritt um Schritt den Menschen zu erkennen gegeben hat, bis zu dem Punkt hin, da er selbst Mensch wurde."
Mit Privatoffenbarung (revelationes privatae) wird alles nachbiblische Offenbarungshandeln Gottes bezeichnet. Diese Art der Offenbarung kann niemals die in Jesus Christus erfolgte Offenbarung korrigieren, erweitern oder überbieten. Gemäß der dogmatischen Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die göttliche Offenbarung Dei Verbum ist die Offenbarung Gottes abgeschlossen, „und es ist keine neue öffentliche Offenbarung mehr zu erwarten vor der Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus in Herrlichkeit“ (DV 4). Dies ist auch völlig schlüssig, da Jesus Christus als wahrer Gott und wahrer Mensch die Selbstmitteilung des dreifaltigen Gottes ist und uns nicht nur die Offenbarung Gottes gebracht hat, sondern selber die Offenbarung Gottes des Vaters ist. In diesem Zusammenhang weist Bischof Graber (1903-1992) aber auch „eine irrige Meinung zurück, als ob Gott die große Offenbarung mit dem Tod des letzten Apostels so abgeschlossen hätte, dass ihm in der nun folgenden geschichtlichen Periode keine Eingreifmöglichkeit mehr zur Verfügung stünde. Dabei übersieht man, dass der Kirche Christi der Heilige Geist gegeben wurde, der die Jünger Christi alles lehren wird (vgl. Joh 14,26) und der Söhne und Töchter weissagen, die Jünglinge Gesichte und selbst Greise Traumgesichte schauen lässt (vgl. Apg 2,17)."
Der Theologe Karl Rahner macht auf zwei Probleme bei einer einseitigen Wertung des Begriffs Privatoffenbarung aufmerksam. Zum einen wird er zu negativ gesehen, wenn Privatoffenbarung nur vom Gesichtspunkt der Abgeschlossenheit der öffentlichen Offenbarung aus betrachtet wird, weil es dann der Theologie nicht gelingt, die wahre Bedeutung und Notwendigkeit für die Kirche aufzuzeigen. Es kommt zu einer Überbetonung des Privaten als für die Kirche Unwichtigen. Zu positiv wird der Begriff dargestellt, wenn er einfach als Offenbarung minus der Tatsache verstanden wird, dass sie sich nicht durch den Offenbarungsträger an alle wendet. In einem solchen Verständnis käme es zur Überbetonung der Offenbarung und zur Nivellierung des wesenhaften Unterschiedes zur biblischen Offenbarung. Aus diesen Schwierigkeiten ergeben sich zwangsläufig zwei Fragen, die auf das Wesen der Privatoffenbarung zielen: Kann etwas, das Gott offenbart, für die Kirche unwichtig sein? Warum offenbart Gott Dinge, die bereits in der biblischen Offenbarung enthalten sind?
Charakter der Ereignisse von Medjugorje
Nach dem bekannten französischen Mariologen R. Laurentin haben private „Offenbarungen die Aufgabe, nicht durch eine objektive Information den Glauben zu vervollständigen, sondern ihn zu wecken, zu erneuern und anzuregen“. Sie sollen den Christen und der Kirche helfen zu erkennen, wie die öffentliche Offenbarung unter den Konditionen des Hier und Jetzt zu leben ist und was in dieser Situation der Wille Gottes ist, der sich nicht direkt aus der Bibel und den Prinzipien der Moraltheologie ableiten lässt. Ein Beispiel unserer Zeit sind für mich die Erscheinungen in Medjugorje. Die Botschaften der Gospa, wie die Gottesmutter von den Einheimischen genannt wird, fügen dem Glaubensgut der Kirche keine neuen Offenbarungen hinzu, sie helfen aber seit vielen Jahren Millionen von Menschen, die Botschaft des Evangeliums im Alltag zu leben, tiefer mit Christus verbunden zu sein und den Glauben in Liebe zu bezeugen. Durch die Erscheinungen haben unzählige Menschen überhaupt erst einen
Weg zum katholischen Glauben gefunden. Hier tritt die prophetische Dimension eines Charismas zu Tage, das dem kirchlichen Leitungsamt helfen soll, den Weg durch die Zeit zu finden. Daraus ergibt sich, dass eine Privatoffenbarung immer zeitbedingt ist und nicht wie die biblische Offenbarung überzeitlichen Charakter hat.
Nach Rahner lassen sich Privatoffenbarungen grundsätzlich in mystische und prophetische Visionen oder Offenbarungen einteilen. Mystisch nennt er „diejenigen, die sich im Ziel und Inhalt nur auf das persönliche religiöse Leben und die Vervollkommnung des Visionärs selbst beziehen“, also zum Bereich der heiligmachenden Gnade gehören. Prophetisch „sind solche, die darüber hinaus den Visionär veranlassen oder beauftragen, sich mit einer Botschaft (...) an die Kirche zu wenden“. Prophetische Offenbarungen, zu denen normalerweise die Marienerscheinungen gehören, müssen zum Bereich der „für die Heiligung anderer und den Aufbau der Gemeinde verliehenen Gnadengaben oder Charismen“ gezählt werden. Auch wenn sich prophetische und mystische Visionen in ihrem phänomenologischen Auftreten oft sehr ähnlich sind, ist es doch unerlässlich, die unterschiedliche Ausrichtung bei ihrer Bewertung zu beachten.
Meines Erachtens besteht zwischen mystischer und prophetischer Offenbarung nicht nur der bereits beschriebene theologische Unterschied, sondern auch ein praktischer, der in der menschlichen Freiheit gründet. Der Mensch, der sich auf den Weg der Mystik begibt, macht sich aktiv auf die Suche nach Gott. Er will durch Gebet, Askese und gelebte Liebe seine Seele für die Gnade der Begegnung mit dem lebendigen Gott bereiten und so kann Gott sich in seiner unendlichem Liebe dem Mystiker im Innersten seiner Seele zu erkennen geben und ihn zur mystischen Vereinigung führen. Den meisten Sehern, die Erscheinungen hatten, musste Gott von außen, also über den Weg der Sinne entgegentreten, um auf sich aufmerksam zu machen und so ihre Freiheit zu wahren. Denn wenn Gott direkt im Inneren des Menschen wirkt, achtet er die menschliche Freiheit so hoch, dass er dessen freie Zustimmung benötigt. Bei einem Mystiker, der Gott sucht, ist diese freiheitliche Zustimmung gegeben. Aber Jugendliche, wie z.B. die Seher von Medjugorje, die am 24. Juni 1981 alles andere als eine Begegnung mit Gott suchten, sandte er Maria in Form einer Erscheinung.
„Prüft alles und behaltet das Gute!“
Bereits der Apostel Paulus macht im Zusammenhang mit prophetischer Offenbarung deutlich, dass diese wohlwollend geprüft werden muss: „Verachtet prophetisches Reden nicht! Prüft alles und behaltet das Gute!“ (1 Thess 5,20-21).
In Bezug auf Erscheinungen und Prophezeiungen schreibt der bekannte Dogmatiker Kardinal Scheffczyk: „Religion kann an diesem einen ihrer Höhepunkte nicht auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit verzichten, sonst entsteht die Gefahr, dass dieses Höchste durch menschliche Schwachheit, Irrtum oder Bosheit entstellt wird und das religiös-übernatürliche Ziel, das mit den Erscheinungen angestrebt wird, in das Gegenteil verkehrt wird. Man darf deshalb behaupten, dass es wesentlich zu einem kernigen, hochherzigen Glauben an Wunder und Erscheinungen gehört, sie nur auf überzeugende Gründe hin anzunehmen.“
Zu diesem Zweck veröffentlichte im Mai 2024 das Dikasterium für die Glaubenslehre in Rom (früher Glaubenskongregation) unter Leitung seines Präfekten Kardinal Fernández, mit ausdrücklicher Zustimmung von Papst Franziskus, „Normen für das Verfahren zur
Beurteilung mutmaßlicher übernatürlicher Phänomene“. Zu diesen übernatürlichen Phänomenen zählen unter anderem Visionen, Auditionen, Marienerscheinungen und andere etwaige übernatürliche Phänomene wie eucharistische Wunder, Stigmata oder weinende Marienstatuen.
Die neu vorgelegten Normen des Dikasteriums für die Glaubenslehre lösen ein Schreiben desselben Dikasteriums, der Glaubenskongregation, aus dem Jahr 1978 ab, welches vom damaligen Präfekten Franjo Kardinal Seper den Bischöfen unter dem Titel „Kriterien zur Unterscheidung von Erscheinungen und Offenbarungen“ zur Verfügung gestellt wurde. Wie bereits der Dogmatiker Manfred Hauke anmerkt, gibt es in den Kriterien zur Beurteilung und Prüfung von prophetischen Offenbarungen zwischen den Normen von 1978 und 2024 keine substanziellen Unterschiede. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass der Ortsbischof, der für die Untersuchung solcher Phänomene zuständig ist, und auch die Glaubenskongregation, der die Untersuchungsergebnisse vorgelegt werden müssen, zukünftig kein Urteil mehr über den übernatürlichen Charakter der behaupteten Erscheinung oder Vision fällen wird.
Die „Königin des Friedens“ und ihre prophetische Dimension
Der Ortsbischof ist gehalten, sobald er in seinem Bistum von mutmaßlichen Tatsachen übernatürlichen Ursprungs erfährt, sich über diese Ereignisse persönlich oder durch einen Beauftragten zu informieren und unverzüglich dafür zu sorgen, dass die für eine erste Beurteilung nützlichen Informationen gesammelt werden. Diese Neuerung in den Normen von 2024 ist sehr bedeutsam. Prophetische Offenbarungen sind wie bereits erwähnt zeitgebunden und erfordern daher eine zeitnahe kirchliche Beurteilung, um den eventuell göttlichen Impuls nicht zu versäumen. Ein Beispiel sind die Erscheinungen von Medjugorje. Maria offenbarte sich im Juni 1981 den sechs Sehern als „Königin des Friedens“ und lud in ihren Botschaften immer wieder ein, sich für den Frieden einzusetzen, dafür zu beten und sich mit Gott zu versöhnen, damit auch unter den Menschen Frieden werden kann. Heute wissen wir, dieser Impuls war richtig, denn genau 10 Jahre später, im Juni 1991, brach der schreckliche Krieg im ehemaligen Jugoslawien aus. Es wäre mit Sicherheit besser gewesen, diesen prophetischen Impuls frühzeitig zu prüfen, anzunehmen und umzusetzen und so den Krieg eventuell zu verhindern, als im Nachhinein sagen zu können: der drängende Impuls für Frieden und Versöhnung war korrekt und wohl übernatürlichen Ursprungs, denn der Krieg, mit dem in den 80er Jahren absolut niemand gerechnet hätte, ist gekommen.
Der Ortsbischof soll eine Untersuchungskommission einsetzen, die mit Theologen, Kanonisten und ausgewählten Sachverständigen besetzt ist. Sie soll alle Aspekte der behaupteten übernatürlichen Ereignisse untersuchen und dem Bischof alle nützlichen Elemente zur Beurteilung liefern. Nach Abschluss der Untersuchung und einer sorgfältigen Prüfung der Ereignisse, inklusive etwaiger geistlicher Früchte, soll der Bischof einen Bericht mit den Ergebnissen und seiner persönlichen Einschätzung der Angelegenheit an das Dikasterium für die Glaubenslehre in Rom schicken. Dieses wird den Fall prüfen und die Entscheidung des Ortsbischofs bestätigen oder auch nicht. Es kann auch eine neue unabhängige Untersuchung anordnen.
Als Urteil stehen nach neuester Festlegung nicht mehr drei mögliche qualitative Einstufungen von Erscheinungen der klassischen Begründung durch Prosper Lambertini zur Verfügung, der auch die Normen von 1978 noch gefolgt waren:
1. „Constat de supernaturalitate“ – „Die Übernatürlichkeit steht fest“. Mit diesem Urteil wären die Erscheinungen als echt, d.h. als von Gott kommend, anerkannt.
2. „Constat de non supernaturalitate“ – „Es steht fest, dass es sich hier nicht um etwas Übernatürliches handelt“. Mit einem solchen Urteil wäre klar, dass es sich um Betrug handeln würde.
3. „Non constat de supernaturalitate“ – „Die Übernatürlichkeit steht nicht fest“.
Die dritte Form des Urteils, welches in den letzten Jahrzehnten am häufigsten bei übernatürlichen Phänomenen angewandt wurde, z.B. in der Erklärung von Zadar der Jugoslawischen Bischofskonferenz (1991) in Bezug auf die bis dahin erfolgte Prüfung der Erscheinungen von Medjugorje, lässt die Frage der Übernatürlichkeit offen. Ein mit einer solchen Feststellung abgeschlossenes Verfahren – es war die überwiegende Mehrheit – ist für alle Beteiligten mehr als unbefriedigend und führte häufig dazu, dass Seher und Gläubige, die sich für ein übernatürliches Phänomen interessierten und es für ihren Glaubensweg nutzbar machen wollten, von den Verantwortlichen der Kirche alleingelassen wurden. Eine Herde ohne Hirten wird entweder zerstreut oder folgt einem zweifelhaften Leithammel. Medjugorje blieb dieses Schicksal Gott sei Dank erspart, weil sich der Orden der Franziskaner mit herausragenden Persönlichkeiten der Seelsorge in Medjugorje angenommen und das Phänomen konsequent begleitet hat.
Entfaltung eines Charismas im Schutz der Kirche
Entsprechend den neuen Vorgaben kann der Ortsbischof, nach vorheriger Genehmigung durch das Dikasterium, zwischen sechs verschiedenen Einordnungen wählen:
Die positivste ist das „Nihil obstat“: den Botschaften wie auch dem neuen Kult spricht nichts entgegen. Im Dekret heißt es dazu: „Auch wenn keine Gewissheit über die übernatürliche Echtheit des Phänomens geäußert wird, so werden doch viele Anzeichen für ein Wirken des Heiligen Geistes ‚inmitten‘ einer bestimmten spirituellen Erfahrung erkannt, und es wurden, zumindest bis dato, keine besonders kritischen oder riskanten Aspekte festgestellt.“ Zwei wesentliche Punkte gehen hieraus hervor. Im Normalfall verzichtet die Kirche zukünftig auf die Feststellung, ob eine Erscheinung oder eine Vision übernatürlich ist oder nicht. Die positive Beurteilung mit „Nihil obstat“ ist nicht endgültig und dauerhaft festgeschrieben, sie kann gegebenenfalls auch geändert und herabgestuft werden, falls sich im späteren Verlauf negative Merkmale eines Phänomens zeigen. Dies ermöglicht aber auch eine schnellere Einordnung gerade von übernatürlichen Phänomenen, die wie Medjugorje lange anhalten. Ein schnelles „Nihil obstat“ ermöglicht es dem Volk Gottes, den Ruf Gottes in die Zeit wahrzunehmen, und dem Seher oder Visionär, sein Charisma im Schutz der Kirche auszuüben. Gleichzeitig schützt es die Gläubigen, die sich für dieses Phänomen interessieren, vor Wildwuchs und Irrtümern.
Als es bezüglich Medjugorje Mitte der 90er Jahre zur Diskussion kam, ob es überhaupt erlaubt sei, als Pilger dorthin zu reisen, nahm der Sprecher des Vatikans, Joaquin Navarro-Valls, am 21. August 1996 in einer öffentlichen Stellungnahme eine Einordnung vor, die einem solchen „Nihil obstat“ nahekam: „Der Vatikan hat niemals gesagt, dass Katholiken nicht nach Medjugorje gehen dürfen. (...) Man kann den Menschen nicht verbieten, dorthin zu
gehen, solange hier keine Irrtümer festgestellt wurden. Da dies nicht der Fall ist, kann also jeder dorthin gehen, wenn er möchte.“ Diese Klarstellung ermöglichte es vielen Millionen Katholiken, mit ruhigem Gewissen nach Medjugorje zu pilgern, sich im Glauben und Gebet zu stärken und weltweit geistliche Früchte zu bringen.
Nach der zukünftig positivsten Einordnung als „Nihil obstat“ folgen in den Einstufungen 2 bis 4 weitere positive Einordnungen, die mit einem kritischen ABER versehen sind. Neben eindeutig positiven Elementen, die wahrgenommen werden und auf ein Wirken des Heiligen Geistes hindeuten, gibt es auch unterschiedliche problematische Elemente, sei es in der Botschaft, im Umfeld des Sehers oder schwärmerischen Risiken, welche es durch den Bischof im Blick zu behalten und wenn möglich abzustellen gilt.
Die Einstufungen 5 und 6 kommen einer negativen Beurteilung eines angeblich übernatürlichen Phänomens gleich. Zur sechsten Einstufung der „Declaratio de non supernaturalitate“ heißt es: „In diesem Fall wird der Diözesanbischof vom Dikasterium berechtigt, zu erklären, dass das Phänomen als nicht übernatürlich betrachtet wird. Diese Entscheidung muss sich auf konkrete und nachgewiesene Fakten und Beweise stützen. Zum Beispiel, wenn ein angeblicher Seher behauptet, gelogen zu haben, oder wenn glaubwürdige Zeugen Elemente für die Beurteilung beibringen, die es erlauben, die Verfälschung des Phänomens (…) aufzudecken.“
Am Ende des ersten Teils der Normen 2024 wird noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, „dass weder der Diözesanbischof noch die Bischofskonferenzen noch das Dikasterium in der Regel erklären werden, dass diese Phänomene übernatürlichen Ursprungs sind, auch nicht, wenn ein Nihil obstat erteilt wird. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass der Heilige Vater ein diesbezügliches Verfahren genehmigen kann.“
Rolle des Papstes ähnlich wie beim Heiligsprechungsverfahren
Der letzte Satz ist sehr interessant, denn er eröffnet die Möglichkeit eines zweistufigen Verfahrens. In der ersten Stufe ist es der Ortsbischof, der nach Voruntersuchung und Abstimmung mit dem Dikasterium für die Glaubenslehre das „Nihil obstat“ erteilt. In der zweiten Stufe ist es der Heilige Vater, der nach weiteren Untersuchungen, insbesondere der geistlichen Früchte, die Übernatürlichkeit des Geschehens als Geschenk des Himmels anerkennt. Zwischen den beiden Stufen können viele Jahre liegen. Mich erinnert dies an das Kanonisationsverfahren. Das Verfahren zur Selig- und Heiligsprechung von Verstorbenen wird nach einer dreistufigen Ordnung durchgeführt. Die erste Stufe ist die Diözesanerhebung. In dieser Phase sammeln der Bischof und die von ihm für jede Causa ernannten Verfahrensbeteiligten Beweise und werten diese aus. Dabei geht es um Beweise oder Gegenbeweise für den Ruf der Heiligkeit des Verstorbenen im Volke Gottes, für das heroisch-tugendhafte Leben des Verstorbenen und für etwaige Wunder, die auf dessen Fürsprache gewirkt wurden.
Seit der nachkonziliaren Reform durch Johannes Paul II. obliegt es dem Ortsbischof „vor allem, über die nötigen Voraussetzungen zur Einleitung eines Verfahrens zu urteilen“ und „sich in jeder Phase der Untersuchung zu vergewissern, ob dieselben für den Übergang zur
nächsten Phase gegeben sind“. Nach Abschluss der ersten Stufe durch den Bischof wird das gesamte Dokumentationsmaterial an das Dikasterium für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse in Rom gesandt. Hier beginnt die zweite Stufe: eine qualifizierte wissenschaftliche Prüfung des gesamten Materials. Die Causa wird von Historikern und Theologen untersucht, die angeblichen Wunder werden, da es sich meist um Heilungen handelt, von verschiedenen Fachärzten begutachtet.
Nachdem die Experten ihre Ergebnisse schriftlich kundgetan haben, erfolgt die dritte Stufe: die theologische Diskussion auf verschiedenen Ebenen, die ihren Abschluss in getrennten Abstimmungen der Kardinäle und Bischöfe der Kongregation über die heroischen Tugenden und die Wunder findet. Fallen die Entscheidungen der Kongregation positiv aus, wird das Ergebnis dem Papst mitgeteilt. Ihm allein obliegt das endgültige Urteil, ähnlich den „Normen 2024“, in denen dem Heiligen Vater die Möglichkeit eingeräumt wird, eine finale Entscheidung über den übernatürlichen Charakter eines Phänomens herbeizuführen.
Positive Signale von Papst Franziskus
Was bedeutet dies nun für das Phänomen Medjugorje, das seit 43 Jahren in katholischen Kreisen weltweit diskutiert wird? Die bereits erwähnte Erklärung von Zadar im Jahr 1991 war für lange Zeit die einzige offizielle kirchenrechtliche Stellungnahme zu den Erscheinungen von Medjugorje. Im Jahr 2010 setzte Papst Benedikt XVI. eine päpstliche Untersuchungskommission unter Leitung von Camillo Kardinal Ruini ein, die im Jahr 2015 ihre Ergebnisse, welche nie veröffentlicht wurden, Papst Franziskus übergab. Nach unbestätigten Informationen aus dem Vatikan votierte die Mehrheit der Kommissionsmitglieder für eine positive Haltung gegenüber den Erscheinungen von Medjugorje. Im Juli 2018 setzte Papst Franziskus den polnischen Erzbischof Henryk Hoser als Apostolischen Administrator (ein vom Papst eingesetzter Verwalter für ein bestimmtes Gebiet) in der Pfarrei von Medjugorje ein. Im Mai 2019 erlaubte der Heilige Vater offizielle Wallfahrten nach Medjugorje, bis dahin waren nur private Wallfahrten erlaubt. Nach dem Tod von Erzbischof Hoser ernannte Papst Franziskus am 01. November 2021 den italienischen Erzbischof Aldo Cavalli zum Apostolischen Administrator.
Ich teile die Einschätzung von P. Gianni Sgreva CP, die er in der Juli-Ausgabe von „Kirche heute“ publik machte, dass Medjugorje „nun durch ein implizites Nihil obstat gekennzeichnet sei“.
Persönlich bin ich aber überzeugt, dass der Glaubenssinn des Gottesvolkes auf die volle kirchliche Anerkennung des Wirkens der Gospa in Medjugorje drängt. Die geistlichen Früchte und verbalen Zeugnisse, die ein Ausdruck des Glaubenssinns sind, dürften ausreichen, um folgende Schlussfolgerung bezüglich des Phänomens Medjugorje ziehen zu können: Der sensus fidei des Volkes Gottes drängt eindeutig zur Anerkennung eines von Gott kommenden und sehr fruchtbaren Charismas in der katholischen Kirche. Alles deutet darauf hin, dass dieser Konsens von allen Gliedern des Gottesvolkes, dem Laienstand, dem Rätestand und dem Klerikerstand getragen wird. Er ist in allen Regionen der Weltkirche wie auch in allen sozialen Schichten verankert. Das Zeugnis des Glaubenssinns ist breit und vielfältig, es zeigt sich in den drei Grundvollzügen der Kirche: in einer erneuerten und
vertieften Sakramenten- und Frömmigkeitspraxis, in verschiedenen Formen der Verkündigung durch Wort und Leben und in der dienenden Liebe an Bedürftigen, Armen und Notleidenden.
Theologen, Bischöfe und auch der heilige Papst Johannes Paul II. haben erklärt, dass die Botschaften von Medjugorje mit dem depositum fidei (Glaubensgut) der Kirche übereinstimmen, dass sie biblisch verwurzelt sind und dem II. Vatikanum entsprechen.
Das verstärkte Streben nach Heiligkeit ist eine auffallende Frucht von Medjugorje und hat zu zahlreichen dauerhaften Bekehrungen und unterschiedlichen Berufungen im Herzen der Kirche geführt.
Bestätigung von Medjugorje durch den Glaubenssinn des Gottesvolkes
Trotz der vereinzelten Ablehnung des Phänomens Medjugorje kann festgestellt werden, dass das positive Zeugnis des Glaubenssinns eine große Einmütigkeit unter Bischöfen, Priestern und Laien aufweist. Die Kirche in Europa erlebt in den letzten Jahrzehnten einen starken Glaubensverlust und einen Niedergang ihrer traditionellen Strukturen. Parallel dazu geschieht durch Medjugorje ein Neuaufbruch in urkirchlicher Weise. Bereits 1987 erklärte der tschechische Primas Kardinal Frantisek Tomasek, Erzbischof von Prag, in einem Interview: „Die Marienerscheinungen von Medjugorje bedeuten für uns sehr viel, weil besonders bei uns in der Tschechoslowakei die Verehrung der Muttergottes tief und lebendig ist. Es herrscht bei uns ein großes Interesse für Medjugorje. (...) Ich persönlich bin von den Erscheinungen von Medjugorje tief überzeugt und bin tief dankbar, besonders weil das Gebet, der Rosenkranz, das Fasten betont werden. (...) Persönlich bin ich tief überzeugt, dass Medjugorje die Fortsetzung von Lourdes und Fatima ist. Die kirchliche Kommission hat sicherlich das letzte Wort, aber die Botschaften müssen wir schon jetzt mit Freude annehmen und leben.“
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2024
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