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„Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“

Die Zeit, in der wir leben, ist voll von Herausforderungen. Vor langer Zeit schon erklärte der große, aus der Herzegowina stammende Lyriker A. B. Šimić dass Dichter wunderbare Originale seien. Sie gehen auf der Erde, aber sie sehen, was andere nicht bemerken, woran andere gleichgültig vorbeigehen. Ihre Augen weiten sich staunend beim Anblick all der Dinge. Der vielleicht beste und ausdrucksreichste österreichische Lyriker Rainer Maria Rilke hinterließ ein unschätzbares dichterisches Erbe. Er schenkte uns sein „Stunden-Buch“, einen Gedichtzyklus nach dem Vorbild monastischer Gebete, die die Soldaten des Ersten Weltkriegs in ihrem Rucksack auf die Kriegsschauplätze mitnahmen wie ein Gebetbuch, denn die Gedichte sind tiefschürfend und nahezu meditativer Art.

Der unaufhörliche Refrain eines jeden Lebens

Sein Leben zu ändern ist nicht bloß die Aufforderung des Dichters, das ist vielmehr jener glückliche Augenblick, in dem jeder die Ohren spitzen und die Augen öffnen muss. Es handelt sich um einen Ruf, den man nicht überhören darf. Er ist radikal, und auf ihn muss man radikal antworten. Er erfordert eine radikale Umkehr. Denn es geht um Grundlegendes, Radikales. Auch der Ruf Jesu am Beginn seines öffentlichen Wirkens geht in diese Richtung, nur mit anderen Worten: „Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“, „Du musst dein Leben ändern!“ ist der unaufhörliche Refrain eines jeden Lebens. Ein großes und schwerwiegendes Wort, das aber oft vom Wind verweht oder in den Wirrungen des Lebens überhört wird.

Der Mensch, gefangen von Gitterstäben

Der zuvor erwähnte Dichter Rilke spazierte einmal im Pariser Zoo. Eines Tages kam er am Käfig eines Panthers vorbei. Dieses Tier, geschaffen für die Wildnis, für schnelle Läufe, lag lustlos in seinem Käfig, umgeben von eisernen Gitterstäben. Da fiel dem Dichter spontan der Gedanke an das Schicksal des Menschen ein, das dem des Panthers gleicht. Der Poet erfasste die Wahrheit unserer Existenz: In einigen düsteren, schwermütigen Versen zeichnete er im Bild des Panthers die Lage nach, in der sich der Mensch oft befindet: Gitterstäbe, Hindernisse, eine frustrierende Welt, ein müder Blick in eine traurige Zukunft. Kein stolzer Schritt, kein weiter Sprung (ein Panther kann bis zu fünf Meter springen), kein Spiel in freier Wildbahn, keine Beute, verengte Pupillen, eine aussichtslose Situation. Für immer eingekerkert fristet er hoffnungslos ein kümmerliches Leben. Eine traurige, trostlose Situation. Alles wäre anders, wäre diese Wildkatze in der Freiheit, kraftvoll im Sprung. Was könnte man alles aus dem Leben machen! Aber überall Verriegelungen, Hindernisse, Gitter. Gitter unserer Leiden, unserer Versklavung, Ketten unserer Erdhaftigkeit, Sünde und Schuld. – Viele haben schon versucht, diese Gitter zu durchbrechen. Viele verkündeten einen Ausweg aus dem Kerker und einen Durchbruch in die Freiheit, in das Licht; aber es blieb ein fruchtloses Unterfangen. Platon sprach von einem Aufstieg aus der Höhle, in der der bloß sinnenhafte Mensch gefangen ist. Das Alte Testament spricht von einer neuen, einer messianischen Zeit, von einem Leben ohne Krankheit und Leid, ohne Einsamkeit und Verlorenheit, von einer Welt, in der die Schwerter zu Pflugscharen und die Lanzen zu Winzermessern umgeschmiedet werden, von einem Leben in Freiheit und Gottesnähe. Aber wo zeigt sich so eine Szenerie? Gehen nicht vielmehr die Propheten, die eine messianische Zeit verkündeten, und Rilke in ihren Aussagen konform? Sind nicht die Visionen des Jesaja, den wir im Advent immer wieder zu hören bekommen, bloß Träume und Illusionen, eine Fata Morgana in der Wüste des Lebens? Wer glaubt heutzutage an ein besseres Morgen, an eine Besserung der Menschheit? Die Dichter? Seit langem sind, so scheint es, die Musen verstummt und hörten auf, liebliche Lieder zu singen.

Die befreiende Botschaft Jesu

Die Weihnachtsfeiertage sind vorbei, also die Festtage im Zusammenhang mit der Menschwerdung des Sohnes Gottes. In unwiederholbaren Bildern beschreiben die Evangelisten Lukas, Matthäus und Johannes das Geschehen. Matthäus in kürzerer, nüchternerer Form, Lukas einigermaßen idyllisch, mit romantischem Ton, und Johannes mit gehobenem theologischen Vokabular. Alle drei erheben in ihren Berichten ihre Stimme gegen die bestehende Situation und gegen die verschlossenen Gefängnisse, in denen wir Menschen auf dieser Erde eingesperrt sind. Es sind mutige Behauptungen, in denen ein neuer Himmel, eine neue Erde und Friede den Menschen seiner Gnade verheißen wird. Steht aber die reale Welt nicht geradezu in totalem Widerspruch zur Frohbotschaft der Engel – in Anbetracht der Unruhen und Kriege, der Gewalt und des Terrorismus, der Versklavung so vieler Völker, der Umwelverschmutzung und -vergiftung? Sind aber die Kriege nicht ein unumgängliches Faktum der Menschheitsgeschichte? Ist die Einkerkerung in die Gitter des Irdischen nicht ein dauerhafter Zustand der Welt und des Menschen? Nein. Gott, der die Wahrheit ist, hat einen weit klareren Blick auf das Geschehen als der Mensch, dessen Augen verblendet sind. Das Wort Gottes verkündet, dass die Tore des Gefängnisses zu öffnen sind, allerdings nur von außen. Jemand musste und muss von außen kommen und die Freiheit und Rettung bringen. Die Evangelien sprechen von diesem außergewöhnlichen Ereignis. Sie sprechen vom Kommen des Sohnes Gottes in Jesus aus Nazareth, von einem ungewöhnlichen Ereignis, das im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius stattfand, nahe dem See Genezareth in Galiläa. Jesus begann seine Botschaft mit dem Ruf zur Umkehr, zum Umdenken, zur Änderung des Lebens. Wir sollten ihm die Fesseln, die uns binden, übergeben, denn in ihm ist Gott selbst erreichbar, Gott ist mit uns, Emmanuel. Bei seinem ersten öffentlichen Auftreten in Nazareth sprach er das schicksalhafte Wort aus: Heute. Heute hat sich das Wort, das Jesaja verkündet hat, an mir erfüllt. Denn der Geist des Herrn ruht auf mir; er hat mich gesandt, den Armen eine gute Nachricht zu bringen, den Gefangenen die Entlassung zu verkünden und den Blinden das Augenlicht, die Zerschlagenen in Freiheit zu setzen und ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen (vgl. Lk 4,18f). Wir könnten sagen: Endlich ist Wirklichkeit geworden, wovon Rilke bloß geträumt hat, als er den Panther im Käfig sah. Denn Jesus verkündet, dass uns Gott nicht allein lässt, dass er barmherzig ist, dass er um unsere Schuld und Schwäche weiß und uns verzeiht; dass er vor allem bei denen ist, die in der Gesellschaft nichts gelten, bei den an den Rand Gedrängten, den Armen und Ausgegrenzten. Er ist bei denen, die sich im wörtlichen und auch im übertragenen Sinn infiziert haben. Gott ist bei denen, die sonst nirgends als in Steuerlisten eingetragen sind. Jesus verkündete die Frohbotschaft und tat Zeichen und Wunder. Von überall strömten die Menschen in großen Scharen zu ihm, nicht nur die seines eigenen Volkes, sondern auch aus heidnischen Gebieten. Es kamen alle, die im Schatten des Todes lebten. Etliche änderten deutlich sichtbar ihr Leben. Jesus rief sie zu sich und, was völlig unbegreiflich ist, er nahm Menschen, um die man üblicherweise einen großen Bogen machte, die man meiden musste – Männer und Frauen – sogar als seine Jünger oder Apostel auf.

Emmanuel – unser Gott ist mit uns

Jesus ist völlig frei von Vorurteilen. Er unterhält sich mit einer Frau aus dem fast heidnischen Samarien, er deckt die Wahrheit über ihr (verpfuschtes) Leben auf. Das gleiche passiert beim Zöllner Levi und beim obersten Zollpächter und Leuteschinder Zachäus, der nach der Begegnung mit Jesus auf einmal eine Kehrtwendung vollzieht und bereit ist, die Geschädigten vierfach zu entschädigen und seinen Reichtum zu teilen. Er möchte – nach dem existentiellen Debakel seines Lebens und einer totalen Lebensinventur – seinen Mitmenschen in die Augen sehen können. Somit ist das prophetische Wort wahr geworden, dass das Volk, das im Dunkel lebte, ein helles Licht sieht (vgl. Mt 4,16). Eine Frau mit zweifelhafter Moral und sonderbarem Benehmen fällt Jesus zu Füßen, wäscht sie und trocknet sie mit ihren Haaren. Sie erkennt auf einmal die Armseligkeit ihres Lebens, die innere Unruhe und die Sehnsucht nach einem Leben in Fülle. Diese Sünderin bleibt ihm treu bis zuletzt. Warum? Ihr wurden viele Sünden vergeben, weil sie viel geliebt hat. „Deine Sünden sind dir vergeben.“ Den anderen Gästen stockte der Atem: „Wer kann Sünden vergeben außer Gott?“ Jesus aber sagte zu der Frau: „Dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden!“ Und die Nachrichten über ihn verbreiteten sich in Windeseile. Massen folgen ihm nach, bleiben tagelang bei ihm. Sie sind hungrig und durstig nach seinem Wort und dem Brot des Lebens. Er nährt sie in der Wüste zuerst mit seinem Wort, heilt ihre Krankheiten, wie es schon der Prophet angesagt hatte, und dann vermehrt er auch die leibliche Nahrung. Die Menschen erkennen, dass eine Kraft von ihm ausgeht. Blinde, Taube, Lahme, Aussätzige, Besessene suchen ihn auf und gesunden. Die Ketten der Sünde und der Krankheit fallen von ihnen ab. Wohin auch immer Jesus kommt, da entsteht eine Welt, wie sie von Gott erdacht war. Auf einmal verwirklichen sich die Visionen Jesajas in Jesus. Unter seinen Händen wird alles neu. Die jahrhundertealten Verheißungen finden Erfüllung. Der Mensch und die Welt finden zusammen, die messianische Zeit verwirklicht sich durch Jesus. Er ist für immer der Emmanuel, der Gott mit uns. Sünden und Krankheiten verschwinden. Die Fesseln des Bösen und des Todes zerreißen, die Gitterstäbe der inhumanen sündigen Strukturen in Politik und Gesellschaft zerbrechen – überall dort, wo sich Menschen an Jesus anlehnen und nach seiner Sichtweise leben wollen. Mit ihm kommt ein neuer Anfang, weit hinaus über alle Möglichkeiten und Rettungsversuche des Menschen.

Sich selbst ändern und dann die Umwelt

Ein für alle Mal – also auch am Beginn dieses Jahres – gibt uns Gott in Jesus unauslöschlich die Botschaft, dass die Welt nicht so bleiben darf und nicht so bleiben muss, wie sie ist, sondern dass sie werden kann, wie Gott sie gedacht hat. Um das zu verwirklichen, begann Jesus ein neues Israel um sich zu scharen, ein neues Volk Gottes, zunächst verkörpert in den zwölf Aposteln als Erben der zwölf Söhne Jakobs und der zwölf Stämme des Alten Bundes. Er sammelt sie, sendet sie dann aber aus, ausgestattet mit der Kraft des Hl. Geistes. Sie mussten durch eine harte Schule und erlebten bittere Zeiten. Aber sie sind Jesu geistige Kinder, neu geboren im Geist. Der Erfahrung von Kreuz und Leid folgt die Auferstehung und das Pfingstereignis. Die Kirche wird geboren als neues Volk Gottes, als Ort, wo in der Kraft Gottes eine neue Welt entstehen soll – und in den Heiligen tatsächlich entsteht. Die Kirche ist ein Wunder hinsichtlich ihrer Entstehung und ihres Bestehens. In ihr kann man die befreiende Macht erleben, die die Ketten und Gitterstäbe unserer Kerker und der Welt zerbricht. Die Kirche ist gerufen, die alttestamentlichen Träume und die Worte und Taten Jesu in unsere Zeit zu übertragen. Es ist schwer, den ersten Schritt zu setzen, aus den Gegebenheiten hinauszutreten. Aber wir müssen keine außergewöhnlichen Taten vollbringen, sondern gerade das, was Jesus seinerzeit tat: Er hielt engen Kontakt zu allen Menschen und lebte das, was er in den Seligpreisungen verkündete. Der hl. Paulus empfiehlt, einer trage des anderen Last, jeder habe Mitgefühl und Herz für andere. Der Lieblingsjünger Jesu schreibt, wir sollen lieben, denn Gott ist die Liebe. Wichtig ist, dass das Wort Gottes in Seele und Herz ein Echo findet. Dann wird sich die Welt in uns und um uns herum zu ändern beginnen. Denn niemals endet das Leben und die Lehrzeit zu Füßen Jesu, beginnend im Haus von Nazareth bis zu Pfingsten und unserem persönlichen Eintauchen in die Ewigkeit – mit dem Herrn.

Pater Dr. Tomislav Pervan OFM

Quellenangaben: Gebetsaktion Wien/124