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„Die Kirche ist kein Mirakelverein“

Der bekannte Heiligenkreuzer Theologe und Jugendseelsorger Pater Karl Wallner rät zu einer vernünftigen Skepsis gegenüber Erscheinungen.
Von der geistlichen Fruchtbarkeit, die von dem herzegowinischen Dorf Medjugorje ausgeht, ist er tief beeindruckt

Im nachfolgenden möchte ich ein persönliches Zeugnis als Theologe und noch mehr als Jugendseelsorger zu Medjugorje geben. Dazu muss ich weiter ausholen: Für mich gibt es einen sehr wichtigen Grund, warum ich stolz darauf bin, katholisch zu sein: Weil wir Katholiken die Vernunft hochhalten! Tatsächlich ist die katholische Kirche heute, inmitten dieser überbordenden abergläubischen Flut von Esoterik und New Age, von religiösem Synkretismus und postmodernem Irrationalismus, der letzte Hort eines nüchternen und vernünftigen Denkens.

Wie habe ich mich als Theologe 1998 gefreut, als uns Papst Johannes Paul II. die unter Mitarbeit des damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger, entstandene Enzyklika „Fides et Ratio“ (Glaube und Denken) geschenkt hat, wo er als Papst die Philosophen ermutigt, die Kräfte des natürlichen Denkens anzuwenden. Ein Papst muss Mut machen, das Denken hochzuhalten!

Wir sind überzeugt, dass unsere Vernunft befähigt ist, an Gott heranzureichen. Sie ist eine herrliche Gabe, die der Schöpfergott allen Menschen geschenkt hat. „Vernunft“ ist für den gläubigen Menschen unverzichtbar, denn wer „nur glaubt“, der ist schnell in Gefahr, in dumme Leichtgläubigkeit, in fanatische Irrgläubigkeit oder in blinden Aberglauben abzusinken.

Von seinem Ursprung weg hat der christliche Glaube nichts mit naiver Leichtgläubigkeit gemein. Die skeptischen Apostel am Ostermorgen, allen voran der „ungläubige Thomas“ mit seinem rationalistischen „Ehe ich nicht sehe..., ehe ich nicht berühre... glaube ich nicht“ (Johannes 20,25) sind Garanten dafür, dass wir nicht leichtgläubig irgendwelchen Fabeleien und Dichtungen gefolgt sind. Weder Hermann Reimarus hat recht, wenn er behauptet, dass die frühe Kirche einem gefinkelten Betrug der Apostel entspringe, noch Ludwig Feuerbach mit seiner Behauptung, alle Religion sei nur wunschgemäße Projektion.

Christlicher Glaube gründet in einer geschichtlich erlebten Wirklichkeit: „Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens.“ (1. Johannesbrief 1,1)

Weil die Rückbindung an das erkennbar Wirkliche, an das vernünftig Feststellbare das Fundament des katholischen Glaubens ist, bin ich so stolz darauf, dass sich die Kirche mit paranormalen Phänomenen wie Erscheinungen, Visionen, Auditionen, Elevationen, Stigmatisierungen und sonstigen „Wundern“ nie leicht getan hat. Der Mensch lässt sich ja vom Mirakelhaften offensichtlich schnell in Bann schlagen.

Die Kirche reagiert immer nach dem gleichsam „apostolischen“ Schema des „ungläubigen Thomas“: also mit einer Skala, die von vorsichtiger Distanz über kritische Hinterfragung bis zu dezidierter Ablehnung reicht. So war es bei den Erscheinungen der Unbefleckten Gottesmutter an Katharina Labouré 1830, die die Verbreitung der Wunderbaren Medaille „incognito“ über ihren Beichtvater organisieren musste; so war es am Anfang der 18 Erscheinungen der „Immaculata“ an Bernadette Soubirous in Lourdes, die vom skeptischen Pfarrer Peyramal geradezu erpresst wurde, einen übernatürlichen Beweis zu fordern; so war es in Fatima, wo die drei kleinen Seherkinder in Polizeigewahrsam genommen wurden. Oder beim stigmatisierten Kapuziner Pater Pio von Pietrelcina, dem der Vatikan getreu den Prinzipien katholischer Vernünftigkeit und der Abwehr übernatürlicher Wundersucht jahrelang das öffentliche Auftreten, ja sogar die öffentliche Zelebration der Heiligen Messe verboten hat. Diese Skepsis ist gut, sie ist „katholisch“. Das kirchliche Amt hat die Pflicht, außerordentliche Phänomene mit distanzierter Skepsis zu prüfen und die Vernunft hochzuhalten!

Es gibt einen weiteren Grund, der zu sorgfältiger Prüfung und Abwägung verpflichtet: Die Kirche ist überzeugt, dass ihr durch die mit den Aposteln abgeschlossene Offenbarung bereits alles an Gnade übergeben worden ist. Alle göttliche Gnade oder besser „alles Übernatürliche“, das der Mensch braucht, um gerettet zu werden, ist bereits im Leben der Kirche anwesend. Und zwar durch einen ganzen „Kosmos“ des Übernatürlichen, der sich im kirchlichen Leben ereignet, vor allem durch die Sakramente.

Zwei Aspekte des Übernatürlichen sind zu unterscheiden: Es gibt das, was der Substanz nach übernatürlich ist (das „supranaturale quoad substantiam“) und das, was (nur) der Art und Weise nach die Natur übersteigt (das „supranaturale quoad modum“). Wesenhaft übernatürlich ist das reale Hineingetaucht-werden in die Gotteskindschaft durch die Taufe, die lebensmächtige Besiegelung mit der Kraft des Heiligen Geistes bei der Firmung, die Gegenwärtigsetzung des erlösenden Kreuzesopfers Christi bei der Heiligen Messe, seine wahre Anwesendheit Christi in der Hostie, die Lossprechung des Sünders bei der Beichte usw. Dieses Wesenhaft-Übernatürliche ist von der Wertigkeit weit mehr als das andere, das bloß Modal-Übernatürliche.

Vom Eindruck, den es auf uns macht, ist es freilich umgekehrt: Das Substanziell-Übernatürliche kommt nämlich immer nur „auf leisen Sohlen“, da Christus sich hineingebunden hat in die kleinen, endlichen, menschlichen Zeichen und Gesten. Bei den Sakramenten wird diese Unscheinbarkeit sehr deutlich: Ein paar Tropfen Wasser, über den Kopf gegossen unter Nennung des dreifaltigen Gottes wird zum Schlüssel für das ewige Leben; ein Stückchen Brot, über das der geweihte Priester gemäß Christi Auftrag die Wandlungsworte spricht, wird zum Ort der Anwesenheit des verklärten Christus.

Das Wesenhaft-Übernatürliche, in dem uns alles Heil zukommt, ist immer „dezent“ und „demütig“. Es geht ja immer um eine innere Wirkung, um die Stärkung der Seele. Im Unterschied dazu erscheint das, was bloß der Art und Weise nach übernatürlich ist, ganz anders. Diese Art des Übernatürlichen macht großen Eindruck, weil es so außer- und ungewöhnlich ist: Das Sonnenwunder von Fatima war eine mächtige Erfahrung für zehntausende Menschen; die Heilungen von Lourdes sind medizinisch hieb- und stichfest überprüft worden. Bei diesen Erscheinungen geht es dem Himmel gleichsam darum, die Menschen zu beeindrucken, sie durch das Aufbrechen des Gewöhnlichen an die Realität der jenseitigen Welt zu erinnern. Die Erscheinungen an Seherkinder faszinieren und beeindrucken die Menschen, hier entstehen Emotionen, hier erschaudert man vor der göttlichen Welt. Trotzdem sind diese Phänomene nur dann sinnvoll, wenn sie auf das eigentlich Übernatürliche zugeordnet sind.

Die Kirche ist kein Mirakelverein, sondern sie ist von Christus in die Welt entlassen, um den Glauben an die Offenbarung Gottes mit „Hirn und Herz“ weiterzugeben. Christentum ist das Leben aus der Gnade Gottes, die uns ebenso innerlich mächtig wie der Erscheinung nach demütig in den Sakramenten der Kirche und in ihrem geistlichen Leben vermittelt wird. Das wichtigste Kriterium für außernatürliche Phänomene ist also, ob sie in diesen Kosmos des Wesenhaft-Übernatürlichen hineinführen, aus dem die Kirche gnadenhaft lebt. Oder ob sie bloßes Spektakel zur Inszenierung einer kurzlebigen religiösen Gänsehaut sind.

Damit komme ich zu meinem Zeugnis über die Früchte von Medjugorje. Das augenblickliche Urteil der Kirche über die Erscheinungen in der Herzegowina lässt alles offen. Seit 1991 bis heute vertreten der Vatikan als auch die (ehemals jugoslawische) Bischofskonferenz den Standpunkt „Non constat de supranaturalitate“: Es steht nicht fest, dass es sich um Übernatürliches handelt. Das ist weder ein Ja, noch ein Nein. Und man wird nur weiterkommen, wenn man sich daran hält. Die gegenwärtige Situation ist die einer kirchlichen Prüfung.

Wenn es aber keine definitive Entscheidung gibt, dann empfinde ich es als problematisch, wenn die einen mit oft aggressivem Unterton so tun als wäre Medjugorje ein satanisches Blendwerk; zugleich ist es problematisch, wenn die anderen für Medjugorje missionieren als ob von der Befolgung der Botschaften das Heil der Welt abhinge. Was insofern übertrieben ist, als es sich um geistliche Einladungen handelt. Ich denke, dass jeder theologisch Gebildete das Recht hat, dem Phänomen Medjugorje ratlos gegenüberzustehen. Wenn diese Phänomene einer regelmäßigen Einsprechung der Gottesmutter Maria an die Seher wahr sind, dann sind sie beispiellos in der gesamten Kirchengeschichte.

Wie froh bin ich als katholischer Theologe, dass es das kirchliche Lehramt gibt, das unaufgeregt, sachlich und theologisch nüchtern alles prüfen wird und uns hier sicher die rechte Weisung geben wird.

Zugleich bin ich Kardinal Christoph Schönborn sehr dankbar, dass er eine Hilfe gegeben hat, auch noch vor einem lehramtlichen Urteil mit Medjugorje umzugehen. Kardinal Schönborn hat auf das Prinzip verwiesen, das Jesus selbst lehrt, um die Geister zu unterscheiden, das Prinzip der Beurteilung der Früchte: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Erntet man etwa von Dornen Trauben oder von Disteln Feigen?“ (Matthäus 7,16) Nun freilich lässt sich auch um die Früchte trefflich streiten: der Bischof von Mostar wird nicht müde, einige im geistlichen Stand „verunglückten“ Priester anzuführen, weil er – und dies scheint mir der offenen Haltung des Vatikans diametral zu widersprechen – von der Nicht-Übernatürlichkeit der Erscheinungen überzeugt ist.

Von den Medjugorje-Fans werden als Früchte die vielen Bekehrungen angeführt, die vielen geistlichen Bewegungen, die sozialen Werke und Gebetsgruppen, die dort ihre Initialzündung erhielten; aber auch der Friede, den die „Königin des Friedens“ lange vor dem Balkankrieg gefordert hat und von dem die Botschaften immer wieder verlangen, dass er der persönlichen Beziehung zu Gott entspringt.

Persönlich habe ich ein klares Urteil über die Früchte von Medjugorje: Da ich ein nüchterner Mensch bin, habe ich die ersten Nachrichten in den 1980er Jahren mit großer Skepsis aufgenommen. Erst als Hans Urs von Balthasar zu meiner Überraschung sehr positiv über Medjugorje schrieb, habe ich dem Drängen von Jugendlichen nachgegeben und eine Pilgergruppe dorthin begleitet.

Ich war gerade fünf Wochen Priester, als ich im Juni 1988 vor der Kirche in Medjugorje aus dem Pilgerbus stieg. An diesem ersten Tag habe ich zehn Stunden Beichte gehört und seither bin ich persönlich davon überzeugt, dass die Früchte, die das Phänomen Medjugorje hervorbringt, auf keinen Fall vom Teufel sein können. Seit damals begleite ich fast jedes Jahr einen Jugendbus nach Medjugorje, und meine ersten Eindrücke haben sich im Laufe der Zeit bestätigt. Es ist vielleicht auch eine Fügung, dass ich Medjugorje immer nur von meinem „normalen“ priesterlichen Dienst her kennenlernen durfte, also von innen, von der Spendung der Sakramente.

Ich habe es als nüchterner Theologe bewusst vermieden, bei „Erscheinungen“ dabei zu sein oder den Sehern auch nur allzu nahe zu kommen. Meine Fragestellung an Medjugorje war immer: Geht es hier um eine Sakro-Show, also um das bloß der Erscheinungshaft-Übernatürliche, oder geht es hier um den Kern, um das Wesenhaft-Übernatürliche? Meine Einsicht ist klar: Was ich in Medjugorje erlebt habe, sind keine faulen Früchte. Alles führt hin zur Eucharistie, zur Beichte, zum Gebet, zu einem Leben aus den Sakramenten, zur Treue gegenüber dem kirchlichen Lehramt.

Meine ursprüngliche Befürchtung, in Medjugorje einen Ort der Wundersucht und der Überdrehtheit zu finden, hat sich als unbegründet erwiesen. Beim letzten Jugendfestival im August 2009 erlebte ich zehntausende Jugendliche, die bei der eucharistischen Anbetung auf dem unbequemen Kieselboden knieten, junge Menschen, die Sehnsucht hatten, täglich die Heilige Messe mitzufeiern. Ich bezeuge, dass meine Stola täglich nass geworden ist von den Tränen der vielen, denen ich nach Jahren oder Jahrzehnten die Beichte abnehmen durfte. Ich kenne viele junge Paare, die von Medjugorje her die Weisheit und den Mut haben, ganz rein in die Ehe zu gehen. Ich kenne Familien, die durch Medjugorje zum Familiengebet motiviert wurden. Unter den Jugendlichen, die ich per Jugendbus nach Medjugorje begleiten durfte, waren jedes Jahr mehrere, die die Gnade einer geistlichen Berufung empfangen haben.

Ich muss diesem Zeugnis hinzufügen, dass die Jugendseelsorge bei uns in Stift Heiligenkreuz, wo monatlich hunderte Jugendliche zu einer intensiven Jugendvigil zusammenströmen, 1998 von Jugendlichen gestartet wurde, die in Medjugorje einen Glaubensaufbruch erfahren haben. Ich bin dankbar, dass ich das Phänomen Medjugorje so „von innen“ heraus, also vom substanziell Übernatürlichen her erleben durfte und darf. Wie immer die Echtheit der „Erscheinungen“ von Medjugorje einmal beurteilt werden wird: diese substanziellen Früchte, diesen geistlichen Aufbruch, der in das Herz der Kirche und ihrer Sakramente führt, möchte ich als Priester und Jugendseelsorger nicht missen.

Beim jüngsten Jugendfestival in Medjugorje waren 50 000 junge Menschen, die „normal katholisch“ beteten, beichteten, eine gesunde eucharistische und marianische Frömmigkeit lebten. Wir waren 600 Priester, aber kein einziger Bischof. Ich bete, dass die Kirche mit Vernunft und Glaube, mit Gerechtigkeit und Liebe zu einem Urteil und einer besseren Ordnung für Medjugorje kommt. Vor allem aber bitte ich Gott, dass die geistliche Fruchtbarkeit, die von dort ausgeht, weiterhin so wesentlich und kraftvoll bleibt.

Von Professor Pater Karl Wallner Zisterzienser
Professor für Dogmatik und Rektor der „Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz“

„Die Tagespost“ 18.2.2010