"Der Gottmensch" von Maria Valtorta


Auszug aus dem Buch

Die Niederschriften der Visionärin Valtorta beschreiben das gesamte Leben und Wirken Jesu aus einer menschlichen Perspektive und helfen somit die Geschehnisse in der Heiligen Schrift besser zu verstehen.

Diese Niederschrift dient der persönlichen Erbauung. Es ist dem Leser überlassen, sie als übernatürlichen Ursprungs anzuerkennen.

Band XII – Kapitel 680

Jesus erscheint der Mutter

Maria hat sich auf ihr Antlitz geworfen, ein armes, gebrochenes Geschöpf. Sie gleicht der verdursteten Blume, von der sie gesprochen hat.

Das geschlossene Fenster öffnet sich, die schweren Läden schlagen heftig gegen die Wand, und mit dem ersten Sonnenstrahl kommt Jesus herein. Maria, die sich bei dem Geräusch aufrafft und den Kopf erhebt, um zu sehen, was für ein Wind die Fensterläden aufgerissen hat, erblickt ihren strahlenden Sohn: schön, unendlich viel schöner noch, als vor seinem Leiden, lächelnd, lebendig, leuchtender als die Sonne, der in seinem weißen Gewand, das gewebtem Licht gleicht, auf sie zukommt. Sie richtet sich auf den Knien auf, kreuzt die Hände über der Brust und sagt mit einem Aufschluchzen, das zugleich lacht und weint:

„Mein Herr und mein Gott.“

Und so bleibt sie, betrachtet ihn hingerissen und mit tränenüberströmtem Gesicht, dessen Ruhe und Frieden jedoch durch das Lächeln Jesu und die Ekstase wiedergekehrt sind.

Aber er will seine Mutter nicht wie eine Magd vor sich knien sehen. Er ruft sie und streckt ihr die Hände entgegen, aus deren Wunden Strahlen brechen, die das glorreiche Fleisch noch leuchtender machen:

„Mama!“

Es ist nicht das traurige Wort der Gespräche und der Abschiede vor der Passion; es ist nicht die herzzerreißende Klage der Begegnung auf dem Kalvarienberg und des Todeskampfes; es ist ein festlicher Ausruf des Triumphs, der Freude, der Befreiung, der Liebe und der Dankbarkeit.

Jesus neigt sich über die Mutter, die nicht wagt, ihn zu berühren, legt seine Hände unter ihre Ellbogen, hilft ihr aufstehen, drückt sie an sein Herz und küsst sie.

Oh, nun begreift Maria, dass es keine Vision ist, sondern der wahrhaft auferstandene Sohn; dass es ihr Jesus ist, ihr Sohn, der sie immer noch als Sohn liebt. Und mit einem Freudenschrei wirft sie sich an seinen Hals, umarmt und küsst ihn und weint und lacht. Sie küsst seine Stirn, die nun nicht mehr verwundet ist, sein Haupt, das nicht mehr ungekämmt und blutig ist, seine leuchtenden Augen, seine geheilten Wangen und seinen nicht mehr geschwollenen Mund. Dann ergreift sie seine Hände und küsst ihren Rücken und ihre Handflächen, die strahlenden Wunden, und gleich darauf beugt sie sich nieder zu seinen Füßen und schiebt das leuchtende Gewand zurück, um auch sie zu küssen. Schließlich steht sie wieder auf, sieht ihn an, hat nicht den Mut …

Doch er lächelt und versteht. Er öffnet das Gewand über der Brust ein wenig und sagt:

„Und diese willst du nicht küssen, Mama? Diese, die dir so großen Schmerz bereitet hat und die zu küssen nur du allein würdig bist ... Küsse mein Herz, Mama. Dein Kuss wird die letzte Erinnerung an alles, was Schmerz ist, verwischen und mir jene Freude schenken, die mir zu meiner Freude als Auferstandener noch fehlt.“

Und er nimmt das Antlitz der Mutter in seine Hände und drückt ihre Lippen auf die Ränder der Seitenwunde, aus der Strahlen hellsten Lichtes dringen. Das Antlitz Marias ist ganz eingetaucht in dieses Licht und von seinen Strahlen umflossen. Und sie küsst und küsst, während Jesus sie liebkost. Sie wird nicht müde zu küssen. Sie gleicht einer Verdurstenden, die den Mund an die Quelle gelegt hat und das Leben aus ihr trinkt, das schon am Entfliehen war. Nun spricht Jesus.

„Alles ist zu Ende, Mama. Nun brauchst du nicht mehr um deinen Sohn zu weinen. Die Prüfung ist bestanden. Die Erlösung ist vollbracht. Mutter, ich danke dir, dass du mich empfangen, aufgezogen und mir im Leben und im Sterben geholfen hast. Ich habe deine Gebete gefühlt, die zu mir kamen. Sie waren meine Kraft im Schmerz, meine Begleiter auf den Wanderungen des irdischen Lebens und auf meiner Reise in das andere Leben. Sie haben mich am Kreuz und im Limbus erreicht. Sie waren der Weihrauch, der dem Pontifex auf seinem Weg voranschwebte, als er seine Diener rief, um sie in den unvergänglichen Tempel zu führen: in meinen Himmel. Sie haben mich ins Paradies begleitet, und gleich Engelsstimmen sind sie dem Zug der von ihrem Erlöser angeführten Erlösten vorangeeilt, damit die Engel bereit seien, den in sein Reich zurückkehrenden Sieger zu grüßen. Der Vater und der Heilige Geist haben sie gesehen und gelächelt, wie über die schönste Blume und den süßesten Gesang des Paradieses. Die Patriarchen und die neuen Heiligen, die Neuen, die Ersten, die Bewohner meines Jerusalem haben sie gehört, und ich bringe dir ihren Dank, Mama, zusammen mit den Küssen der Verwandten und ihrem Segen und dem des Bräutigams deiner Seele, Josef. Der ganze Himmel singt dir, meine Mutter, heilige Mutter, sein Hosanna. Ein Hosanna, das nie verstummt; das nicht lügt, wie das erst vor wenigen Tagen mir gesungene.

Nun gehe ich in meinem menschlichen Kleid zum Vater. Das Paradies muss den Sieger in seinem Menschengewand sehen, in dem er die Sünde des Menschen besiegt hat. Doch dann werde ich wiederkommen. Ich muss jene im Glauben festigen, die noch nicht glauben und doch glauben müssen, damit sie andere zum Glauben führen können. Ich muss die Kleinmütigen stärken, die so viel Kraft brauchen werden, um der Welt zu widerstehen. Dann werde ich zum Himmel auffahren. Aber ich werde dich nicht allein lassen. Mama, siehst du diesen Schleier? In meiner Ohnmacht hatte ich noch die Macht, ein Wunder für dich zu wirken, um dir diesen Trost zu schenken. Doch für dich wirke ich noch ein anderes Wunder. Du wirst mich im Sakrament besitzen, so wirklich wie damals, als du mich getragen hast. Du wirst nie allein sein. In diesen Tagen bist du es gewesen.

Aber zu der von mir gewirkten Erlösung war auch dein Schmerz notwendig. Vieles muss immerwährend der Erlösung hinzugefügt werden, denn es wird zu allen Zeiten viele neue Sünden geben. Ich werde alle meine Diener zu dieser Teilnahme am Erlösungswerk aufrufen. Du allein wirst mehr dazu beitragen als alle Heiligen zusammen. Daher war auch diese lange Verlassenheit notwendig. Nun nicht mehr. Ich bin nicht mehr vom Vater getrennt. Du wirst nicht mehr vom Sohn getrennt sein. Und da du den Sohn hast, hast du auch unsere Dreifaltigkeit. Als lebendiger Himmel wirst du auf Erden die Dreifaltigkeit unter die Menschen bringen und die Kirche heiligen, du, die Königin des Priestertums und die Mutter der Christenheit. Dann werde ich kommen und dich holen. Nicht mehr ich werde in dir sein, sondern du in mir, in meinem Reich, um das Paradies noch zu verschönern. Nun gehe ich, Mama. Ich gehe, um die andere Maria glücklich zu machen. Dann gehe ich zum Vater, und danach komme ich zu denen, die nicht glauben. Mama, deinen Kuss als Segen. Und meinen Frieden als Begleiter für dich. Leb wohl.“

Und Jesus verschwindet in der Sonne, die vom heiteren Morgenhimmel herabstrahlt.

Wir danken dem Parvis Verlag für die Bereitstellung des Textes zur Veröffentlichung!

Maria Valtorta: Der Gottmensch - Leben und Leiden unseres Herrn Jesus Christus. Parvis-Verlag
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Die einzelnen Kapitel der Niederschriften von Maria Valtorta sind auch kostenlos als Hörbuch hier anzuhören! Jeden Tag wird ein neues Kapitel dieses umfassenden Werkes auf YouTube veröffentlicht.